Heilung ist das Ziel

Kriege, Konflikte und der Umgang mit generationsübergreifenden seelischen Verletzungen

Interview mit Dr. Omar Chehadi, Psychologe, Ruhruniversität Bochum

Von Noha Salom
Übersetzung aus dem Arabischen: Clara Abai
Redaktion: Martina Sabra

Wie sehr Kinder in Kriegen und Konflikten leiden, nehmen Erwachsene oft nicht im ganzen Ausmaß wahr. Die Folge sind seelische Verletzungen und Erkrankungen, teilweise über Generationen hinweg. Seit 2015 wurde in Deutschland über transgenerationale Traumatisierungen meist im Zusammenhang mit Kriegen im Nahen und Mittleren Osten diskutiert. Seit Russlands Invasion in der Ukraine ist das Thema erneut auf der Agenda: Viele Kinder, die bereits Flucht und Vertreibung erlitten haben, sind nun erneut mit furchtbaren Bildern und Geschehnissen konfrontiert.
Über die Auswirkungen von Kriegen auf die seelische Gesundheit von Kindern und über Möglichkeiten, den daraus resultierenden Stress zu bewältigen, spricht die Journalistin Noha Salom hier mit Dr. Omar Chehadi. Der Psychologe lehrt aktuell an der Ruhr-Universität Bochum. In den vergangenen Jahren war Dr. Chehadi mehrmals als Experte bei der deutsch-arabischen Elternwerkstatt zu Gast, eine Veranstaltungsreihe der AWO Mittelrhein Integrationsagentur im Rahmen des KOMM AN – Projektes „Arab_El – Empowerment für arabischsprachige Eltern“.

Herr Chehadi, Kriege können Menschen aller Altersgruppen seelisch krank machen. Kinder gelten jedoch als besonders anfällig für die sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD). Wie definiert man PTSD?
Die Posttraumatische Belastungsstörung ist eine psychische Krankheit, die zum Beispiel durch Kriege, Naturkatastrophen oder sexualisierte Gewalt ausgelöst wird, bei Erwachsenen und bei Kindern.
Die Krankheit wird als Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet, da die Symptome erst nach einem Zeitraum von sechs Monaten bis zu mehreren Jahren nach dem traumatischen Erleben auftauchen.

Woran erkennt man PTSD?
Die Symptome von PTSD bei Kindern variieren je nach Kindesalter. Dazu zählen zum Beispiel nächtliches Bettnässen, Schlafstörungen, beängstigende Träume und Albträume, Konzentrationsschwierigkeiten in der Schule oder auch das Wiederholen der traumatischen Situationen beim Spielen mit anderen Kindern. Hinzu kommen oftmals Schuldgefühle, der Wunsch nach Rache oder beides zusammen. Die Symptome können mit Schmerzen einhergehen, an unterschiedlichen Stellen des Körpers: Zum Beispiel Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen.

Wie wird die Störung diagnostiziert?
Die Diagnose von PTSD bei Kindern wird in einer psychiatrischen Fachpraxis in einem Gespräch mit dem Kind und seiner Familie durchgeführt. Es erfolgt eine psychologische Begutachtung, wobei man Symptome und Gefühle bespricht, und die Ereignisse analysiert, die die Störung verursacht haben könnten.

Die aktuellen Nachrichtensendungen sind oft voller Kriegsbilder, die bei geflüchteten Menschen womöglich Erinnerungen an eigene Erlebnisse wachrufen. Wie können Eltern ihre Kinder in der Situation schützen?
Die Bilder und Ereignisse, die wir im Fernsehen sehen, ähneln den Ereignissen von 2015. Einprägsam sind vor allem die Bilder der Bahnhöfe, wo Mütter und kleine Kinder darauf warten, dass jemand sie empfängt oder mitnimmt. Ebenso die Bilder von Bombeneinschlägen und von der Vertreibung von Zivilist*nnen. Oder die Panik in den Einkaufsläden und der Kauf großer Mengen an Öl und Mehl.
Solche Szenen können bei vielen Eltern und Kindern eine sogenannte „Reaktivierung“ der posttraumatischen Belastungsstörung auslösen, wobei Erinnerungen und Gefühle zurückkehren und aufs Neue durchlebt werden, manchmal noch intensiver als zuvor.
Daher raten wir betroffenen Eltern, das Anschauen von Nachrichten zu reduzieren und sich auf positive Aktivitäten mit den Kindern zu konzentrieren. Eltern können sich mit ihren Kindern zusammensetzen, mit ihnen sprechen, zuhören, welche Ängste die Kinder haben. Wichtig ist, diese Ängste nicht kleinzureden, sondern sie ernstzunehmen. Denn es ist wichtig, dem Kind ein Gefühl von Sicherheit zu geben, und ihm zu zeigen, dass seine Familie immer an seiner Seite ist und sich kümmert.

Unterscheidet sich das Denken eines Kindes, das Krieg erlebt hat, von dem eines Kindes, das immer im Frieden gelebt hat? Beeinflusst der psychische Zustand des Kindes sein Verhalten im Hinblick auf seine psychische Bereitschaft, mit anderen Kriegen zurechtzukommen?
Kinder, die bereits selbst Kriege erlebt haben und die nicht unter psychischen Störungen leiden, können eine gewisse psychische Widerstandsfähigkeit entwickeln. Kinder, die keine eigenen Kriegserfahrungen gemacht haben, und die nur das wissen, was sie zu Hause und in der Schule sehen und hören, sind teilweise stärker gefährdet. Ängste der Eltern können sich negativ auf die psychische Gesundheit der Kinder auswirken.

Was kann man tun, damit die Kinder trotz des Krieges in der Schule mitkommen und gut lernen können? An welchem Punkt sollten Eltern psychologische Unterstützung suchen?
Es gibt verschiedene Alarmzeichen. Ein auffällig starkes Interesse an Kriegsnachrichten, Zukunftsangst, Konzentrationsschwierigkeiten bei den Hausaufgaben oder im Unterricht zählen dazu. Aber auch Lustlosigkeit, Desinteresse am Spiel und an Freundschaften oder Aggressionen gegen sich selbst und andere. Weitere Anzeichen sind übertriebene Anhänglichkeit oder der Rückzug auf sich selbst. In diesen Fällen sollten Eltern eine kinderpsychologische oder psychiatrische Praxis aufsuchen.

Welche Rolle spielen Schulen und Kindergärten bei der psychologischen Betreuung des Kindes?
Die Schule und die Kita geben Struktur. Das kann je nach Kindesalter und Schule sehr hilfreich sein, sofern die Kinder die Möglichkeit haben, frei über ihre Ängste und Gedanken in Bezug auf den Krieg und die Zukunft zu sprechen.

Kann die von Kriegen und Tragödien belastete Erinnerung der Kriegsgeneration die Zukunft des Kindes und dessen zukünftige Art der Erziehung beeinflussen? Wie sieht es mit der zweiten Kriegsgeneration aus?
Wenn Kriegserlebnisse und daraus folgende Störungen nicht angemessen behandelt werden, kann dies die Beziehung zu Kindern über zwei oder drei Generationen beeinflussen, direkt oder indirekt, zum Beispiel durch das Vernachlässigen positiver Aktivitäten oder aufgrund einer Neigung der Eltern, sich zu isolieren und anderen zu misstrauen. Wir führen dazu aktuell eine Studie an der Ruhr-Universität Bochum durch, bei der wir an der psychologischen Unterstützung von Eltern arbeiten, während wir die Eltern gleichzeitig, durch Training, in positiven Erziehungskompetenzen stärken. Die ersten Resultate zeigen, dass sich das positiv auf die seelische Gesundheit von Kindern auswirkt.

Wie entwickeln Kinder Hassgefühle? Wachsen solche Gefühle mit der Zeit?
Die Erfahrungen der Vergangenheit haben gezeigt, dass die Zunahme rassistischer Gewalt an Schulen fast immer mit den aktuell verbreiteten Nachrichten zusammenhängt. Hass gehört zu den erworbenen Gefühlen, die wir als Menschen mit der Zeit lernen. Deshalb ist es wichtig, vor Kindern vorsichtig und respektvoll zu sprechen und Hass und Wut nicht auf bestimmte Menschengruppen zu richten. Das ist überall wichtig, aber besonders dort, wo viele Nationalitäten leben, z.B. in Deutschland.

Was sollte allgemein getan werden, um negative psychologische Folgen von Kriegen zu vermindern?
Aus dem Zweiten Weltkrieg weiß man, dass die Menschen nicht heilen können, wenn die seelischen Verletzungen nicht angemessen behandelt werden. Einige Symptome können zwar mit der Zeit nachlassen, aber das reicht meistens nicht. Menschen, die an psychischen Störungen leiden, müssen so schnell wie möglich eine angemessene Therapie bekommen, damit künftige Generationen einen Chance haben, gesund aufzuwachsen. Wichtig ist der Follow Up, dass man so lange dranbleibt, bis die Person wirklich psychisch gesund ist.

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