Verlässliches Fundament für ein solidarisches Miteinander – unser Grundgesetz

Das Inkrafttreten des Grundgesetzes und das Bestehen des AWO Bezirksverbands Mittelrhein jähren sich 2024 zum 75. Mal. Dieser Beitrag lädt dazu ein, Aufbau und Inhalt des Grundgesetzes kennenzulernen. Er entsteht als Praxisprojekt im Rahmen der Weiterbildung zum “AWO-Democrat“ und verknüpft einzelne Normen des Grundgesetzes mit Grundwerten der Arbeiterwohlfahrt.

Historische Wurzeln

Das Bonner Grundgesetz wurde am 23. Mai verabschiedet und trat zum 24. Mai 1949 in Kraft. Es ist die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und das Ergebnis der 30 Jahre zurückliegenden Erfahrungen der Deutschen.

Sie kannten das politische Leben unter der Weimarer Verfassung von 1919. Diese stattete den Reichspräsidenten als Nachbildung des Kaisers des Deutschen Reichs mit Machtfülle aus. Durch die Befugnis, das gewählte Parlament zu entmachten und Notstands-verordnungen zu erlassen, war es ihm möglich, an den Abgeordneten vorbeizuregieren. Die erste deutsche parlamentarische Demokratie erwies sich in Krisenzeiten als präsidial.

Als Schwachstelle zeigte sich u.a. das sogenannte „verfassungsdurchbrechende Gesetz“, das es dem Parlament ermöglichte, Regelungen der Weimarer Verfassung mit 2/3-Mehrheit außer Kraft zu setzen. Dies betraf 1934 das Amt des Reichspräsidenten, dessen Befugnisse mit denen des Reichskanzlers verschmolzen wurden.

Ausgearbeitet wurde das Grundgesetz in Bonn durch die Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Vier der zeitweise 77 Mitglieder waren Frauen. Unter ihnen, Frederike Nadig aus Herford, die sich zuvor ehrenamtlich für die Arbeiterwohlfahrt engagierte und sodann zur Abgeordneten des Deutschen Bundestages gewählt wurde.

Das Grundgesetz war ursprünglich nur für den Übergang bis zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten gedacht. Seitdem wirkt die Bundesrepublik Deutschland auf die Verwirklichung eines vereinten Europas hin.

Als historisches Vorbild dient dem Grundgesetz neben den jüngsten Erfahrungen auch die mehr als 100 Jahre alte Frankfurter Paulskirchenversammlung, welche bereits den fortschrittlichen Gedanken der „Grundrechte“ kannte.

Abwehr- und Teilhaberechte

Grundrechte verpflichten den Staat, sich aus dem Privaten weitestgehend herauszuhalten (Abwehrrecht) und eine freie Entfaltung des Einzelnen, Interesse und Fähigkeiten nachzugehen (Teilhaberecht), zu ermöglichen.

Hierbei unterscheidet das Grundgesetz Grundrechte, die allen Menschen zustehen und solche, die den Deutschen vorbehalten sind. Angehörige von EU-Staaten werden Deutschen gleichgestellt. Grund für die Unterscheidung Grundrechtsrechtträger zu sein, ist die Nähe zur politischen Willensbildung, die dem „Volk“ vorbehalten ist.

Das Bonner Grundgesetz benennt in den ersten 19 Artikeln einzelne Grundrechte. An erster Stelle steht die Menschenwürde, Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie ist die deutlichste Antwort auf nationalsozialistische Verbrechen, Menschen dürfen nie wieder Objekte staatlichen Handelns sein:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Weitere Grundrechte betreffen u.a. das Gleichbehandlungsgebot, die Teilnahme an der demokratischen Meinungsbildung (u.a. Meinungs- und Versammlungsfreiheit), die Berufs- und Eigentumsfreiheitsrechte, die Religionsfreiheit usw. Als Auffanggrundrecht für Situationen, in denen kein spezielleres Grundrecht einschlägig ist, kann die Allgemeine Handlungsfreiheit herangezogen werden.

Eingriffe in Grundrechte durch den Staat werden als „Grundrechtsschranken“ bezeichnet. Als Grundlage dieser Einschränkung sieht das Grundgesetz ein Gesetz oder ein anderes Recht von Verfassungsrang vor. Diese Grenzen werden auch „Schranken-Schranke“ genannt.

Grundrechte dürfen durch oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Ausgeschlossen ist dies nur für die Menschenwürde, welche unantastbar ist. Dieses Gesetz muss einen legitimen Zweck verfolgen, zur Zweckerreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein.

Beispiel:

Die Straßenverkehrsordnung ist ein Gesetz. Durch seine Regelungen zur Nutzung von Straßenraum schränkt es das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit ein. Straßenverkehrsteilnehmende dürfen nicht nach Belieben fahren, müssen Geschwindigkeiten beachten und aufeinander Rücksicht nehmen, Ampel und Zebrastreifen beachten und bei Spurwechsel und beim Abbiegen besonders aufmerksam sein.

Die Straßenverkehrsordnung ordnet also den Straßenverkehr, was einen legitimen Zweck darstellt. Regelungen zu Geschwindigkeit, Fahrverhalten etc. sind dazu förderlich, also geeignet.

Sofern es keine milderen, gleich effizienten Maßnahmen gibt, ist sie auch erforderlich. Insbesondere sind freiwillige Regelungen im Straßenverkehr nicht gleich wirksam: Wer schnallt sich schon freiwillig an, fährt innerorts maximal 50 und blinkt vor dem Abbiegen?

Schließlich werden andere Grundrechte als die des Verkehrsteilnehmers nicht verletzt, sondern – z.B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Fußgänger*innen und Radfahrenden wird geschützt. Also ist die Straßenverkehrsordnung auch angemessen, andere Güter von Verfassungsrang zu schützen.

Das Staatswesen

Für das Staatswesen bestimmt Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland als demokratischen und sozialen Bundesstaat.

In diesem geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, dessen Meinungsbildung maßgeblich über das Parteiensystem geleitet wird. Jeder*jedem erwachsenen Einwohner*in (Bürger*in) steht bei Wahlen grundsätzlich eine Stimme zu. Diese ist nach den Wahlgrundsätzen allgemein, frei, geheim und unmittelbar abzugeben. Dies gilt für die Wahl des Bundestages genauso wie für die Wahlen der Landesvertretungen und der Vertretungen in den Gemeinden und Kreise vor Ort.

Die Gesetzgebung ist den Bundesländern zugewiesen, lediglich in den durch das Grundgesetz genannten Sachgebieten (z.B. auswärtige Angelegenheiten, Luftverkehr, Postwesen, Vereinsrecht) ist der Bund zuständig.

Gesetze des Bundes werden durch den Bundestag beschlossen. Bevor der Bundespräsident die beschlossenen Gesetze durch Unterschrift ausfertigt und es im Bundesgesetzblatt verkündet wird, ist der Bundesrat zu beteiligen. Er vertritt die Bundesländer und hat je nach Rechtsgebiet unterschiedliche Beteiligungsrechte. Stets darf er den Vermittlungsausschuss anrufen und bei erfolgloser Vermittlung Einspruch einlegen. Diesen kann der Bundestag wiederum überstimmen.

Wesentlich ist ebenfalls die „Gewaltenteilung“ in gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt, Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Gewaltenteilung verhindert eine einzelne starke Person an der Spitze des Staates. Ganz deutlich wird dies in der Rolle des Bundespräsidenten, der anders als der Reichspräsident in der Weimarer Republik nur repräsentative Aufgaben wahrnimmt, etwa das beschlossene Gesetz ausfertigt.

Der Bundespräsident hat nicht die Machtfülle des Reichspräsidenten. Anders als dieser wird er nicht direkt vom Volk gewählt, sondern durch die Bundesversammlung. Eine starke Stellung kommt dem Bundeskanzler zu, der durch den Bundestag gewählt wird. Die Parlamentsauflösung können Kanzler und Präsident nur gemeinsam erreichen, falls der Bundestag dem Kanzler das Misstrauen ausspricht.

Die Ausführung der Bundesgesetze ist Ländersache. Hierzu richten diese selbst Behörden ein. Ein Durchgriff des Bundes auf die Gemeinden ist nicht vorgesehen, sondern nur eine Übertragung von Aufgaben durch die Länder.

Die Rechtsprechung ist ebenfalls unabhängig. Gegen Entscheidungen ist der Instanzenzug zulässig, sodass es eine Kontrollinstanz für die Rechtsprechung geben kann.

Stets erforderlich ist die Erhebung der öffentlichen Klage, ohne die ein Gericht nicht tätig wird. Je nach Rechtsgebiet bestimmt der Amtsermittlungsgrundsatz (Gericht klärt von sich aus auf) oder der Beibringungsgrundsatz (Kläger und Beklagte müssen Beweismittel herbeischaffen) das Verfahren.

Anders als in der Weimarer Verfassung gibt es mit dem Bundesverfassungsgericht eine Instanz, die nach Erschöpfung des Rechtsweges von den Bürger*innen adressiert werden kann. Sie können „Verfassungsbeschwerde“ erheben, wenn sie der Ansicht sind, die Gerichte hätten in ihren Entscheidungen die Grundrechte des Einzelnen nicht ausreichend beachtet.

Als unantastbare Kernelemente der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bestimmt das Bundesverfassungsgericht: Menschenwürde, Demokratieprinzip und Rechtstaatlichkeit.

In sozialer Hinsicht kann sich die*der Einzelne auf staatliche Unterstützung in allen Lebenslagen berufen. Hier gelten die Regelungen der Sozialgesetzbücher, die sich von Leistungen des Bürger- und des Arbeitslosengeldes, Leistungen der Pflege, der Teilhabe von Behinderten, bis hin zu Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung beschäftigen. Die genauere Ausgestaltung ist sodann in den einzelnen Gesetzen (SGB I – SGB XII) niedergeschrieben. Jede einzelne Regelung ist – wie oben am Beispiel gezeigt – auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz hin zu prüfen.

Werte der Arbeiterwohlfahrt

Die Neugründung der Bezirks- und Landesverbände war notwendig geworden, nachdem die Nationalsozialisten 1933 die Arbeiterwohlfahrt verboten hatten.

Die AWO wirkt darauf hin, in unserer Gesellschaft bei der Bewältigung sozialer Probleme und Aufgaben mitzuwirken und um den demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen.

Unsere Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz finden sich im Grundgesetz wieder. Manche offensichtlich, manche sind erst aus dem Zusammenspiel mehrerer Grundrechte ersichtlich.

Dabei ist anzumerken, dass eine direkte Bezugnahme des Parlamentarischen Rates auf die Grundwerte der AWO nach hiesigem Kenntnisstand nicht erfolgt ist. Indes wurden Vertreter*innen der AWO in der Bundesrepublik zu neuen Gesetzesvorhaben im Sozialwesen als Sachverständige einbezogen.

Die Freiheitsrechte gegen den Staat und für ein selbstbestimmtes Leben des Einzelnen stellen die offensichtlichste Übereinstimmung zwischen Grundgesetz und Grundwerten der Arbeiter-wohlfahrt dar. Auch die Solidarität als Ausdruck des sozialen Bundesstaates findet sich als Staatsstrukturprinzip wieder. Dabei geht unsere Solidarität unmittelbar in unseren Arbeitsalltag über. Wir leben den Sozialstaat in der Kinder- Jugend- und Altenhilfe ganz konkret.

Toleranz, das Ertragen von Eigenarten der anderen, findet sich etwa bei der Meinungsfreiheit. Das Grundgesetz verbietet – mit Ausnahme nationalsozialistischer Meinungen – keinerlei Positionierung. Solange keine anderen Grundrechte dadurch verletzt werden, dürfen Meinungen – auch sachlich falsche oder von der Mehrheit als abwegig angesehene – frei geäußert werden.

In unseren Berufen greifen wir Eigenarten unserer Klienten und die Bedürfnisse des sozialen Miteinanders auf, um jeder*jedem zu ermöglichen, sich nach den eigenen Möglichkeiten frei zu enthalten.

Der Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz wurde maßgeblich von Frederike Nadig geprägt. Gemeinsam mit ihrer sozialdemokratischen Mitstreiterin, der Juristin Elisabeth Selbert, gelang ihr ein wegweisender Erfolg: Ihr Formulierungsvorschlag, sprachlich knapp und inhaltlich klar

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“

fand in Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes Eingang. Das war 1949 keine Selbstverständlichkeit. Der Familienalltag war durch das Bürgerliche Gesetzbuch auf den Mann als Entscheider zugeschnitten und insbesondere im Nationalsozialismus wurde ein häusliches Frauenbild vermittelt, das vor allem auf die Reproduktion von Nachwuchs abzielte.

Ebenso setzen sich Nadig und Selbert für die Gleichstellung ehelicher und nicht ehelicher Kinder – Artikel 6 Absatz 5 des Grundgesetzes ein.

Der Gleichheitswert findet sich auch bei der sogenannten mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte wieder. Grundrechte wirken sich auch in Rechtsverhältnissen zwischen den Bürgern aus. So ist der Zugang z.B. zu Erwerbstätigkeit und Wohnraum maßgeblich durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geprägt.

Benachteiligungen aus Gründen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, einer Behinderung u.v.m. können gerichtlich auf Beseitigung und Unterlassung verfolgt werden.

Was ist nun mit der Gerechtigkeit? Rein juristisch betrachtet ist sie keine Kategorie wie Grundrecht oder Gesetz. Sie ergänzt stattdessen die Gleichheit schwesterlich und bildet die Summe aus Freiheit, Toleranz und Solidarität. Nur wer vor dem Gesetz gleich ist, kann ihre*seine Freiheit, die Toleranz anderer und die Solidarität des Gemeinwesens einfordern.

Je nach Blickwinkel auf die Gesellschaft wird sich eine unterschiedliche Meinung zu dem Grundwert ergeben. Sind starre Fristen oder Einkommensgrenzen für Steuerlast bzw. Sozialleistungen gerecht? Sind es Investitionen in das Sozialwesen oder die Bezahlung von Arbeitenden der sozialen Arbeit?

Beantworten kann diese Frage wohl keine*keiner allein. Beeinflussen kann die*der Wahlberechtigte jedoch die Willensbildung der Parlamente. Ob in Europa, im Bund oder in NRW gilt: Jede Stimme zählt.

Unsere wehrhafte Demokratie ist lebendig und will gelebt werden. Nutzen wir unsere Freiheit, gleichberechtigt zu wählen.

Begriffssammlung:

Freiheitlich-demokratische Grundordnung: Nicht zu ändernde Kernstruktur des Grundgesetzes: Menschenwürde, Demokratieprinzip, Rechtsstaatlichkeit

Gewaltenteilung: Eine Person darf nur Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung angehörig sein. Die Institution ist auf ihren Aufgabenbereich beschränkt.

Grundrechte: Rechte der einzelnen Person, sich frei zu entfalten und möglichst ohne staatliche Einflüsse leben zu dürfen.

Parlamentarischer Rat: Versammlung, die den politischen Neuanfang Deutschlands nach der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten einleiteten. Beschloss das Grundgesetz und bestand bis auf 4 Frauen nur aus Männern.

Schranke: Gesetz, das in ein Grundrecht eingreift.

Schranken-Schranke: Prüfung der „Schranke“ anhand von 4 Merkmalen (Zweck, Eignung, Erfordernis, Angemessenheit). Auch die Schranke selbst muss mit den Zielen der Verfassung in Einklang stehen.

Verfassungsdurchbrechendes Gesetz: Ermöglichte dem Parlament per Gesetz die Verfassung zu durchbrechen. Gab es in der Weimarer Republik, nicht aber in der Bundesrepublik. Hier ist eine Verfassungsänderung erforderlich.

Verfassungsbeschwerde: Abschließende Prüfungsanfrage einer*eines Bürgers an das Verfassungsgericht bzgl. einer Verletzung von Grundrechten.

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